Demokratie braucht Begegnung
Ein Gastbeitrag von Rainald Manthe, Soziologe und freier Autor
3.10.2025
Die vielfältigen Krisen in der Welt hinterlassen Spuren bei den Menschen. Spaltung und Polarisierung sind die Vokabeln der Stunde, Zusammenhalt eine immer wieder geäußerte Forderung. Die zunehmende Krisendichte hat auch Rückwirkungen auf die Demokratie: Während über 90 Prozent der Deutschen der Meinung sind, Demokratie sei die beste Staatsform, liegt die Zufriedenheit mit ihrem Funktionieren bei unter 50 Prozent.
Demokratie fehlt Begegnung
Das hat auch etwas damit zu tun, wo Gesellschaft sich begegnet. Die Orte, an denen die Menschen noch vor ein, zwei Jahrzehnten selbstverständlich zusammenkamen, sind weniger geworden. Das sind etwa Kneipen, aber auch Schwimm- und Freibäder, Bibliotheken oder Jugendclubs für die Jüngeren.
Drei Prozesse waren dafür maßgeblich verantwortlich. Die Deutschen sind, erstens, individualistischer geworden. Retreat statt Kirche, Fitnessstudio statt Sportverein, projektorientiertes Engagement statt Partei – die Elemente des Lebens werden heute freier gewählt. Das führt aber auch dazu, dass wir immer mehr Menschen begegnen, die uns in verschiedenen Dimensionen ähnlich sind. Und es hat Auswirkungen darauf, wie wir zu Menschen stehen, die anders sind als wir selbst. Überhitzte Debatten, Hass im Netz und auf der Straße sind Folgen davon. Und: Das Vertrauen in Menschen, die anders sind als wir selbst, sinkt.
Rückzug des Staates
Der Staat hat sich, zweitens, aus der Finanzierung öffentlicher Infrastrukturen zurückgezogen. Seit den 1990ern hieß es: Markt statt Staat. Und das hatte gute Gründe, der Staat war langsam und bürokratisch geworden. Der Markt sollte es richten. Kommunale Schwimmbäder wichen teuren Erlebnisbädern, Shoppingmalls ersetzten belebte Innenstädte, die Öffnungszeiten vieler staatlich finanzierter Einrichtungen wurden reduziert. Heute merken wir: Es wurde vielerorts zu weit getrieben.
Und drittens wohnen die Deutschen vermehrt in einem homogenen Umfeld. Zumindest für die deutschen Städte kann man feststellen: Einkommensstark und mit hohen Bildungsabschlüssen findet man eher am Stadtrand, arm und bildungsarm eher in den Hochhaussiedlungen der 1960er und 70er Jahre. Man trifft sich weniger: im Hausflur, beim Einkaufen, aber auch in der Schule und beim Elternabend. Eine Nebenfolge dieser drei Prozesse ist, dass viele Begegnungsorte wegfallen.
Demokratie braucht Begegnung
Demokratie braucht aber Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Wir müssen immer mal wieder einen Ausschnitt der Menschen wahrnehmen, mit denen wir in einer Gesellschaft leben. Dafür spielen auch flüchtige Begegnungen eine Rolle, denn auch sie irritieren unsere Stereotype. Sprachlicher Austausch, das wiederholte Treffen der immer selben Menschen und das gemeinsame Tun ergänzen diese Begegnungsform. So werden Unbekannte zu sogenannten legitimen Anderen: Wir erkennen sie als Gesellschaftsmitglieder an, obwohl sie anders sind. Das ist in Demokratien wichtig, denn abstrakt einigen wir uns mit all diesen anderen Mitgliedern der Gesellschaft auf die Regeln des Zusammenlebens.
Es gibt zahlreiche zivilgesellschaftlich gestaltete Begegnungsorte. Sie setzen oft an konkreten Bedarfen vor Ort an: Nachbarschaftstreffs, Stammtische beim Bäcker, Gartenprojekte oder Sportgruppen. Häufig ersetzen sie Orte, die vorher durch den Staat (Schwimmbäder) oder die Wirtschaft (Dorfläden) betrieben wurden. Neben zivilgesellschaftlicher Initiative braucht es aber auch konstante Orte. Hier kommen staatliche, vor allem aber kommunale Infrastrukturen ins Spiel, also etwa Bibliotheken, Volkshochschulen, Schwimmbäder, aber auch Schulen oder Sportvereine.
Volkshochschulen als Begegnungsorte
Was heißt das für die Volkshochschulen? Sie sind natürlich Orte der Bildung, denn eine komplexe, sich rasant entwickelnde Gesellschaft braucht Orte des Lernens. Aber Volkshochschulen sind auch Orte der Begegnung. Das sind sie im Kursraum, aber auch darüber hinaus: Ein Café, ein Spieleabend, ein Müttertreff nach dem Deutschkurs – das sind Ideen, die bereits umgesetzt werden. Wichtig dafür sind Treffpunkte jenseits des Klassenraums, etwa ein kleines Café, ein paar Tische und Stühle, lose gruppiert, eine kleine Garten- oder Parkfläche.
So mischen sich die Menschen auch jenseits ihrer Kurse, nehmen einander wahr, tauschen sich aus. Die Volkshochschule kann so zu einem einladenden Ort werden, der über die Kurse hinaus wirkt und zusammenbringt. Noch weiter hinein in Gesellschaft können die vhs über Kooperationen wirken. Kooperieren sie mit Vereinen und Initiativen, mit Bibliotheken, aber auch mit Unternehmen, können sie ihre Angebote ausweiten. Sie bekommen aber auch mehr und andere Menschen in ihre Häuser, werden zu Orten der Begegnung und Zivilgesellschaft. Denn: Zivilgesellschaftlichen Initiativen fehlen oft Räume, während sie spannende Inhalte und Angebote liefern. Natürlich, sie sind oft pädagogisch unkonventioneller, aber die Mischung macht’s.
Unternehmen bieten darüber hinaus spannende Einblicke in die Wirtschaft, in die Arbeitswelt, aber auch in Forschung und Entwicklung. Auch sie verfügen oft über pädagogische Erfahrungen, die sich einbauen lassen. Wie kann das aussehen? Die ortsansässige Robotikfirma kann ihre Automatisierungsmodelle vorführen, es können Exkursionen in Firmen angeboten werden, man kann die regionale Landwirtschaft ebenso kennenlernen wie die Möglichkeiten klimafreundlichen Bauens. Und der ortsansässige Spieleverein kann seine Skatrunden in der vhs anbieten und um Nachwuchs werben.
Volkshochschulen als Infrastrukturen der Demokratie
Aber vhs kann noch mehr: Sie kann nicht nur zum Begegnungsort werden, sondern auch dorthin gehen, wo die Menschen sind. Und das sind vor allem ihre Alltags- und Hobbyorte. Warum nicht kleine Angebote konzipieren für die Kneipe, den Bau- oder Supermarkt oder jenseits der Stoßzeiten in der Straßenbahn einen halben Wagen in ein Quiz einbeziehen? Ideen, die Lust auf Bildung machen, gibt es viele.
So werden Volkshochschulen zu zentralen Orten einer Kommune, an denen alle zusammenkommen können. Sie sind somit Infrastrukturen der Demokratie, die für ein resilientes Miteinander, das auch zukünftige Krisen übersteht, essenziell sind.
Rainald Manthe ist Soziologe, freier Autor und Vorstand der spendenfinanzierten Stiftung Bildung. In seinem 2024 erschienenen Buch „Demokratie fehlt Begegnung“ widmet er sich den Alltagsorten der Demokratie und der Frage, wie sie weiterentwickelt werden können. Er schreibt regelmäßig zu den Herausforderungen und Entwicklungen der Demokratie.
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Volkshochschulen sind Orte der Begegnung. Wichtig sind auch Treffpunkte jenseits des Kursraums, damit die Menschen sich mischen und austauschen. (Bild: iStock)

