Demokratie stärken heißt Demokratie leben

Wie Volkshochschulen neue Räume für Begegnung, Dialog und politische Selbstwirksamkeit schaffen – Abschluss der landesweiten Initiative „Ratschlag Demokratie“

05.12.2025

Wie können demokratische Prozesse in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft gestärkt werden? Wie Begegnung und Dialog neu gedacht werden? Diese Fragen stand im Zentrum der Abschlussveranstaltung der Initiative Ratschlag Demokratie – Wie können wir Grundwerte und Rechtsstaat verteidigen?, zu der der Volkshochschulverband Baden-Württemberg am 4. Dezember nach Stuttgart eingeladen hatte. Unter der Moderation von Maximilian Jakubowski zeigte der Abend, wie vielfältig Demokratiebildung heute gedacht werden muss – lokal, digital, alltagsnah und gemeinschaftsstiftend.

„Wir sind in keiner guten Verfassung – obwohl wir eine gute haben“

Zur Eröffnung machte Fritz Kuhn, Vorsitzender des Volkshochschulverbands, den Ernst der Lage deutlich. In Deutschland gebe es „zu viel Schlechtreden“, was zum „Einfallstor für Demokratieverdruss“ werde. Sein Plädoyer: Probleme klar benennen, aber auch anerkennen, was funktioniert, etwas Feuerwehr, Krankenhäuser oder die Wasserversorgung. Kuhn plädierte dafür, dass wir unserer Demokratie mit mehr Wärme und Wertschätzung begegnen müssen – und uns bewusst bleiben sollten, dass ihre Grundwerte keineswegs selbstverständlich sind.

Mit einem Zitat von Hannah Arendt erinnerte Kuhn daran, dass demokratisches Urteilsvermögen an Fakten gebunden ist: „Ein Volk, das nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, kann auch nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden.“ Und setzte damit das Leitthema des Abends: Welche Rolle spielen Volkshochschulen in einer Zeit, in der der gesellschaftliche Grundkonsens brüchiger wird?

Wie Volkshochschulen Demokratie im Alltag erlebbar machen

Drei Einrichtungen stellten exemplarisch vor, wie sie Menschen aktivieren und neue Dialogformen erproben. „Wir brauchen mehr zufällige Begegnungen“ – Daniel Kanzleiter (vh Ulm) berichtete vom Ulmer Fachtag für alle, die politische Bildungsarbeit leisten: einer Mischung aus Netzwerktreffen, Arbeitsgruppen und Bestandsaufnahme, insbesondere mit Blick auf den ländlichen Raum. Demokratie findet im Alltag statt: in der Kommune, im Verein, in Schulen und überall dort, wo Menschen zusammenkommen. Genau dort brauche es neue Impulse: „Wir müssen raus aus unseren Blasen – hin zu Orten wie Tankstellen, Dorfbäckern oder Supermärkten.“

Marktplatz als Resonanzraum: Für die Mannheimer Akademie stellte Susanne Deß die „Meile der Demokratie“ vor – ein offenes Gesprächsformat mitten der Stadt. Die Erfahrungen dort zeigten: Es lohnt sich, die Menschen auf der Straße abzuholen. Ob Mikrofon oder improvisierter Marktplatz: „Die Menschen kommen ins Gespräch, sie reden miteinander, nicht übereinander.“ Für Deß bedeutet Demokratie: „fair verhandeln und Kompromisse nicht als Niederlagen verstehen“.

Alexandra Kohlberger-Bauer (vhs Filderstadt) präsentierte die Lange Nacht der Demokratie, die bewusst generationenübergreifend angelegt war: Politisches Kabarett, Podiumsdiskussionen und eine gemeinsame Party verbanden unterschiedliche Altersgruppen. Besonders wirksam: eine interaktive Wand, an der Bürger*innen festhalten, was Demokratie für sie bedeutet. Zum Beispiel: „Die Möglichkeit, mich zu beteiligen.“

Norbert Lammert: Demokratie ist der Ausnahmefall

In seiner Keynote betonte Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Demokratie braucht Demokraten – das ist weniger banal, als es klingt.“ Zwar erklärten sich 80 Prozent der Deutschen zu überzeugten Demokrat*innen, dennoch halte rund ein Drittel politische Teilhabe „nicht für ihre Sache“. Nur 52 Prozent seien überzeugt, dass die Demokratie funktioniere – ein „Riss im Gebälk“, wie Lammert formulierte.

Er erinnerte daran, dass die Demokratie weltweit betrachtet ein Ausnahmephänomen sei, „nur rund zehn Prozent der Weltbevölkerung“ lebten in wirklich funktionsfähigen demokratischen Systemen. Besorgniserregend sei zudem, dass Demokratien heute häufig über Wahlen kollabierten: Durch Mehrheitsentscheidungen legitimierte Regierungen unterminierten anschließend Gewaltenteilung, Pressefreiheit oder Unabhängigkeit der Justiz.

Sein Fazit: Die Zukunft der Demokratie entscheide sich daran, ob Bürgerinnen und Bürger „die Durchsetzung allgemeingültiger Regeln für wichtiger halten als die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele“.

Podiumsdiskussion: Was braucht eine demokratische Stadtgesellschaft?

In der anschließenden Gesprächsrunde wurden praktische Anforderungen an demokratisches Zusammenleben greifbar. Sören Schwesig (Evangelische Landeskirche) sprach von einer „Empörungsgesellschaft“, in der einfache Wahrheiten hohen Reiz ausübten. Es sei mühsam, aber notwendig, diesem Trend entgegenzutreten. Aus Sicht junger Menschen betonte Ela Er (ehemals Jugendrat der Stadt Stuttgart), dass Engagement nicht an Vorwissen scheitert: „Es ist gar nicht so schwer, Menschen für Grundwerte zu begeistern. Wichtig ist, ihnen die Angst zu nehmen.“ Demokratie beginne mit der Bereitschaft, sich einzubringen – nicht mit formaler Expertise.

Ayse Özbabacan, Integrationsbeauftragte der Stadt Stuttgart, ergänzte, viele Menschen wüssten nicht, wie sie sich beteiligen könnten: „Sie haben das Gefühl, dass ihre Perspektive nicht wahrgenommen wird.“ Es brauche mehr Räume des Zuhörens, niedrigschwellige Zugänge und starke Multiplikator*innen.  Oliver Hildenbrand, Grüne Baden-Württemberg, bestätigte, dass der Zugang entscheidend sei: „Alle haben die gleichen Rechte, aber nicht alle haben den gleichen Zugang zu diesen Rechten.“ Politische Teilhabe brauche deshalb direkte, persönliche Begegnung – und Orte, die sie ermöglichen. Volkshochschulen seien hier essenziell und müssten in angespannten Haushaltslagen „aktiv geschützt“ werden.

Die Diskussion der Vertreter*innen der Stadtgesellschaft machte deutlich: Demokratie lebt von Ermutigung, Zugänglichkeit und einem Kulturwechsel hin zu echter Teilhabe. Volkshochschulen schaffen genau dafür stabile Räume – niedrigschwellig, dialogorientiert, sozial durchmischt, lokal verankert. Sie stärken das demokratische Miteinander dort, wo Menschen tatsächlich leben.

Kommunikative Macht wird in digitalen Räumen neu geordnet

Zum Abschluss richtete Politikwissenschaftlerin Prof. Jasmin Riedl, Universität der Bundeswehr München, den Blick auf digitale Diskursräume. Soziale Medien seien weder gut noch böse; sie ermöglichten politische Beteiligung und Vielfalt. Gleichzeitig böten gerade ihre Mechanismen ein Einfallstor für Manipulation und demokratiefeindliche Inhalte.

Kommunikative Macht wird auf digitalen Plattformen neu verteilt: Algorithmen sortierten Inhalte nach emotionaler Wirkung – „reißerisches, schockierendes“ Material verbreite sich schneller als sachliche Beiträge. Das habe Folgen: Unser Informationsökosystem „verschmutze“, Vertrauen sinke, Polarisierung steige. Ihr Plädoyer: Demokratie brauche „empirische Wahrheiten“ und Konfliktlösungsmechanismen statt Feindbilder. Politik und Rechtsprechung müssten digitale Plattformen stärker regulieren: „Die Plattformen gehören an die Leine!“ Und jede*r Einzelne solle wieder lernen, zuzuhören, „um zu verstehen und nicht, um zu entgegnen“.

Die Veranstaltung bildete den feierlichen Abschluss der landesweiten Initiative „Ratschlag Demokratie“. Im Foyer präsentierten Volkshochschulen aus dem ganzen Land ihre Projekte: neue Dialogformate, kreative Beteiligungsangebote, experimentelle Diskursräume. Eine digitale Broschüre mit sämtlichen Ergebnissen, Methoden und Beispielprojekten erscheint Anfang 2026.

Mehr Infos:

Ratschlag Demokratie – Wie können wir Grundwerte und Rechtsstaat verteidigen?

Zum Abschluss der vhs-Initiative „Ratschlag Demokratie“: ein Abend in der vhs Stuttgart über Kompromisse, Konflikte und die Rolle der Volkshochschulen in einer polarisierten Gesellschaft (Bilder: AW Wagner)

© 2025 Volkshochschulverband Baden-Württemberg e.V.